Eine Antwort auf den modernen Rassismus

Ein Artikel von Dr. Joseph Boot1

Der biblische Glaube kennt den modernen Begriff von „Rasse“ nicht. Zwar spricht die Heilige Schrift von Stämmen, Völkern und Nationen (Gen 10–11; Offb 7,9), doch das Wort „Rasse“ ist weder Teil des Lexikons des Neuen Testaments, noch ist der Begriff „Rassen“ Teil der DNA inspirierter Offenbarung. In der Heiligen Schrift gibt es nur eine „Rasse“ bzw. ein Blut in Adam (Apg 17,26), und so gibt es, obwohl heute stark erweitert, letztlich nur eine Menschheitsfamilie – eine Tatsache, die für unser theologisches Verständnis der Einheit der gesamten Menschheit sowohl in unserer Sündhaftigkeit als auch in ihrer potenziellen Einbeziehung in die erlöste Menschheit in Jesus Christus, dem letzten Adam (1 Kor 15,21–28), unserem Verwandten und Erlöser (Jes 59,20), von entscheidender Bedeutung ist. Das Evangelium selbst steht auf dem Spiel, wenn wir die grundlegende Einheit der gesamten Menschheit betrachten. Es war diese bahnbrechende Botschaft des Friedensevangeliums in der frühen Gemeinde, die die alte Spaltung, die Vorurteile und den Groll zwischen Juden und Heiden überwand (Eph. 2,11-22). Da sich Rassentheorien in den letzten Jahren nicht nur in der westlichen Welt, sondern auch in vielen evangelikalen Kirchen verbreitet haben, beginnen wir diesen Artikel mit der Betrachtung der Entwicklung dieser Ideologie, ihrer Folgen und der Aussage der Bibel dazu.

Der Ursprung von Rasse und Rassismus

Die moderne Idee der „Rassenbeziehungen“ entstand, als nach Jahrhunderten relativer Isolation im Mittelalter Entdecker europäischer Nationen ab dem 15. und 16. Jahrhundert begannen, bis dahin unbekannte Länder und Völker zu entdecken. Mit der sogenannten „Aufklärung“ und der zunehmenden Begegnung mit fremden Völkern begann sich in Europa ein Rassenbewusstsein zu entwickeln. Gleichzeitig entwickelte sich ein hierarchisches Muster, in dem ethnische Gruppen nach ihrer Überlegenheit geordnet wurden.

Diese Denkweise erhielt im 19. Jahrhundert durch die evolutionären Spekulationen und Hypothesen von Charles Darwin einen enormen Auftrieb. Darwins Theorie war von Natur aus rassistisch und ging davon aus, dass sich die verschiedenen „Rassen“ der Menschen zu unterschiedlichen Zeiten und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit entwickelt hätten.

Dies bedeutete, dass einige Menschen ihren affenähnlichen Vorfahren näher und ähnlicher waren als andere. Der bekannte Evolutionsforscher Stephen Jay Gould räumte ein: „Biologische Argumente für Rassismus mögen schon vor 1859 verbreitet gewesen sein, aber sie nahmen nach der Akzeptanz der Evolutionstheorie um Größenordnungen zu.“2 Diese Aufklärungsbewegung ist von großer Bedeutung, da sie von einem theologischen Verständnis des Menschen zu einem „wissenschaftlichen“ übergeht.

Während also ethnische Vorurteile so alt sind wie die Menschheit selbst, ist „Rassismus“ als Denkkategorie in der westlichen Welt ein ausgesprochen moderner Begriff. Er ist durch spezifische Vorstellungen von Über- und Unterlegenheit gekennzeichnet und steht in Zusammenhang mit Verhaltenspraktiken, die Herrschaft und Unterordnung auf der Grundlage erkennbarer äußerer Merkmale beinhalten. Obwohl die Vorstellung einer Hierarchie in der Natur, die zu einer Hierarchie der Völker führt, für Intellektuelle in Ost und West eine immerwährende Anziehungskraft hat – Aristoteles war der Ansicht, dass einige Menschen von Natur aus Sklaven sind -, lehnt das biblische Christentum jede Vorstellung von Über- und Unterordnung eines Volkes gegenüber einem anderen ab, die auf physischen, biologischen oder sogenannten „rassischen“ Merkmalen beruht.

Der kulturelle und philosophische Kontext der gegenwärtigen „rassischen“ Spannungen

Wenn es um die gegenwärtige gesellschaftliche Fixierung auf den „Rassismus“ geht, ist der Kontext sehr wichtig. Die westliche Welt befindet sich derzeit in einer tiefgreifenden Krise. Gesellschaftlicher Zerfall und Zusammenbruch zeichnen sich bedrohlich ab. In dem Maße, in dem christliche Überzeugungen und eine biblische Weltanschauung schwinden und ein tiefes Gefühl der spirituellen Entwurzelung hinterlassen, hat ein Verlust an kultureller Identität rasch Einzug gehalten. Unsere zerrüttete Gesellschaftsordnung ist so orientierungslos geworden, dass die Bevölkerungen der westlichen Nationen nicht mehr wissen, wer sie sind oder wer sie waren. Nachdem sie durch einen Prozess der Indoktrination und des sozialen Umsturzes absichtlich entmoralisiert und entchristlicht wurde, hat man sich auf die Ideologie des „Multikulturalismus“ oder „Pluralismus“ berufen, um eine neue Identität und ein neues Zugehörigkeitsgefühl zu schaffen. Doch das Problem ist, dass es nicht funktioniert hat. Multikulturalismus und religiöser Pluralismus als Ideologie unter der Aufsicht und Billigung des säkularen Staates haben, nicht überraschend für die Christen, völlig versagt, und anstelle von Harmonie entstehen überall radikale Spaltungen. Solange der Westen sich weigert, die zentrale religiöse Dimension des gemeinsamen Sinns, Werts und Zwecks in der Gesellschaft anzuerkennen und sich mit ihr auseinanderzusetzen, wird er das gegenwärtige Problem des „Rassismus“ weder verstehen noch überwinden können.

Die Spannungen zwischen den im Westen lebenden Völkern sind heute noch komplizierter, weil sie in einen dreifachen eschatologisch-bedeutungsvollen Konflikt zwischen utopischen/globalistisch-marxistischen und ethnonationalis-tischen Gesellschaftsauffassungen und dem Evangelium vom Reich Gottes in und durch Jesus Christus verwickelt sind, die hinter der wirklich christlichen Antwort zurückbleiben und eine falsche Lösung für die Schwierigkeiten vorschlagen.

Auf der marxistischen Seite dominieren derzeit die kritischen Rassentheoretiker (CRT) die Kulturlandschaft. Sie glauben, dass wir nur durch eine permanente Revolution gegen den weißen Unterdrücker dem schwindenden Horizont der sogenannten „Rassengerechtigkeit“ näherkommen können. Auf der wachsenden ethnonationalistischen Seite, die auf das falsche Evangelium des Marxismus reagiert, haben ihre Befürworter ihre eigene gesellschaftspolitische Lösung für die Spannungen: Sie sehen die Notwendigkeit eines stärkeren „Rassenbewusstseins“ (ob im Sinne von Ethnizität oder Nation) und eines gewissen Maßes an ethnischer Segregation. Aus dieser Sichtweise offenbart eine sorgfältige Untersuchung der Naturgesetze durch die Vernunft inhärente Unterschiede zwischen „Rassen“ oder Volksgruppen – Unterschiede, die auch intuitiv durch unser instinktives Gefühl von Verwandtschaft erfasst werden und die es anzuerkennen und gesellschaftspolitisch umzusetzen gilt. Ethnozentrische Nationalisten neigen zu einem primordialen Identitätsverständnis, in dem „Rasse“ (Blut) und „Ort“ (soziokulturelle Herkunft) im Mittelpunkt der Identitätsdefinition stehen – der romantische Ruf von Blut und Boden. Kritische Theoretiker hingegen vertreten eine konstruktivistische Sichtweise von „Rasse“ als einer realen, aber kulturell erfundenen sozialen Kategorie, die zur Ausbeutung und Unterdrückung von Menschen dient. Die primordialen Nationalisten tendieren dazu, ethnische Besonderheiten (Vielfalt) für ein wirklich gutes Leben zu verabsolutieren, während die marxistischen Globalisten zu einer Verabsolutierung politischer Universalität (Einheit) tendieren, in der alle Unterschiede eingeebnet und beseitigt werden müssen. Beide Pole enthalten nur eine Teilwahrheit und sind folglich Irrtümer. Betrachten wir nun beide Pole genauer.

Marxistischer umgekehrter Rassismus und christliche Kultur

Paradoxerweise vertreten die marxistischen Anhänger der kritischen Rassentheorie trotz der wissenschaftlichen Widerlegung der Idee von „Rasse“ als menschlicher Gruppe und Untergruppe und trotz ihrer Berufung auf eine konstruktivistische Sichtweise von Rasse die Ansicht, dass die Welt dennoch in zwei Gruppen aufgeteilt werden kann – „Weiße“ und alle anderen. Die Gruppe der „Weißen“ (wohlgemerkt eine biologische oder rassische, keine kulturelle Bezeichnung) sind die Unterdrücker, und in unterschiedlichem Maße sind schwarze Menschen die Unterdrückten. Diese Ungerechtigkeit ist angeblich in den Gesetzen, Strukturen und Institutionen der „weißen“ Gesellschaft verankert. Die soziologische Erfindung des „weißen Privilegs“ und der „weißen Schuld“ ist zu einem wirksamen Instrument geworden, das die Revolutionäre einsetzen, um die „rassische“ Spaltung der modernen westlichen Gesellschaft zu schüren. Das hat auch dazu geführt, dass revisionistische Ansichten über Kolonialismus und Sklaverei zu beliebten Themen geworden sind, die die „weiße Schuld“ und die daraus folgende Notwendigkeit politischer Buße, Wiedergutmachung usw. „beweisen“.

In der mythischen marxistischen (CRT) Darstellung der Welt kann nur die „weiße“ Gruppe „rassistisch“ sein, so dass die Unterdrückten niemals Unterdrücker sein können. Nicht-weiße Kulturen erhalten im Allgemeinen einen Freifahrtschein für ihre Ungerechtigkeiten, ethnischen Vorurteile, Gräueltaten, Versklavungen usw. Das bedeutet nicht nur, dass Schwarze (oder jemand aus der so genannten BIPOC-Gruppierung)3 allein das Recht haben, über Rassismus zu sprechen, sondern auch, dass es keine echte Zusammenarbeit von „Weißen“ mit „Schwarzen“ geben kann, um diese Probleme zu lösen, weil Weiße nur dann helfen werden, wenn die Interessen von Schwarzen (oder BIPOC) mit ihren Interessen „zusammenfallen“ – daher kann es Weißen nicht erlaubt werden, darüber zu sprechen. Da „weißes“ Wissen und Handeln nur von ihrem Standpunkt aus und in ihrem Interesse erfolgen, kann man ihnen niemals glauben oder vertrauen. Somit ist der (nur für Weiße mögliche) „Rassismus“ von Natur aus strukturell und damit dauerhaft – er kann nie endgültig überwunden werden.

Es ist besonders wichtig festzustellen, dass die Struktur und die Wurzeln dieser Ideen nicht von afrikanischen oder asiatischen Denkern stammen, sondern von neomarxistischen europäischen Intellektuellen – größtenteils Atheisten aus Deutschland, Ungarn und Italien, die entschlossen waren, das zu zerstören, was vom Christentum übrig geblieben war. Indem man einer Volksgruppe die Schuld zuweist, muss die Strafe für alle globalen Übel auf sadistische Weise auf diese Gruppe gelegt werden, als eine Art falsche Sühne, um die Schuld aller zu sühnen. In dem Maße, in dem das christliche Denken dieser Kritik nachgegeben hat, wurde in den westlichen Nationen ein masochistischer Drang genährt, sich selbst zu bestrafen, um für die ihnen vorgeworfenen Verbrechen zu sühnen – in der Regel durch verschiedene Formen der Wiedergutmachung, Zahlungen, Übernahme von Lasten, falsche Geständnisse und Entschuldigungen, Preisgabe ihrer Institutionen oder Selbstenteignung und unbeschränkte legale oder illegale Migration aus Entwicklungsländern usw.

Die marxistische Wurzel des sich selbst verurteilenden „weißen Mannes“ liegt jedoch nicht in der Hautfarbe, sondern in der religiösen Bindung des historischen Christentums selbst. Eine „weiße“ oder „europäische Mentalität“ ins Visier zu nehmen, macht überhaupt keinen Sinn, weil eine solche Mentalität logischerweise auf das vorchristliche Europa als „rassischen“ Faktor angewendet werden muss. Doch das vorchristliche Europa war barbarisch, heidnisch und verstrickte sich in alle möglichen kanaanitischen Sünden. Bis zur Bekehrung zum Christentum praktizierten die Wikinger aus den nordischen Ländern sogar Menschenopfer. Dies beweist, dass das eigentliche Ziel nicht das „Weißsein“ als solches ist, sondern die christliche Kultur, die die westlichen Völker fast 1500 Jahre lang repräsentierten. Aus biblischer Sicht ist die Mentalität eines jeden Volkes kein „rassisches“ Erbe, sondern ein Produkt der Religion und der Kultur, die diese Religion hervorbringt.

Primordialer Nationalismus und Romantik

Es war völlig vorhersehbar, dass dieser umgekehrte Rassismus der marxistischen Perspektive, der eine bestimmte Volksgruppe offen angreift und unterdrückt, schließlich in einem reaktionären, ethnisch orientierten Nationalismus ausbrechen würde. Es ist bemerkenswert, dass sowohl die primordialen Nationalisten (die „rassische“ Trennung und Verwandtschaft in angeborenen, unveränderlichen natürlichen Intuitionen oder biologischen Strukturen und Instinkten verwurzelt sehen) als auch die kritischen Rassentheoretiker (die auf ihre Weise kulturell bedingte „rassische“ Trennung als strukturell und dauerhaft betrachten) gewisse Merkmale teilen. Keiner von beiden liefert ausreichende Grundlagen für Einheit in Vielfalt, und beide haben eine implizite Eschatologie der Niederlage in Bezug auf „Rassenbeziehungen“.

Der primordiale Nationalismus (d. h. der ethnozentrische Nationalismus) ist ein Produkt der Romantik, die die Einzigartigkeit des Individuums und seiner Nationalitäten, Bräuche und Ursprünge betonte. Im späten achtzehnten und neunzehnten Jahrhundert ersetzte der Nationalismus nach und nach das Christentum als Mittelpunkt des europäischen Lebens. Wie der Sozialkritiker R. J. Rushdoony erklärt:

„So wie für den romantischen Helden das Wohl des Individuums an erster Stelle steht und Vorrang vor allen anderen Überlegungen hat, so ist für die Nation im romantischen Glauben das Wohl oder das Anliegen der Nation das höchste Gut und hat Vorrang vor christlichen Anliegen. Nationales Eigeninteresse ging Hand in Hand mit dem Glauben an nationale Überlegenheit und Selbstverherrlichung… in früheren Epochen fühlten sich die Menschen einem Herrn oder einem König treu, nicht der Nation als solcher; jetzt galt die Treue einem Nationalstaat… während die Romantik anfangs das Individuum betonte, kam sie mit der Zeit dazu, die Freiheit des Nationalstaates oder des Arbeiterstaates oder eines Rassenstaates auf Kosten der persönlichen Freiheit zu betonen.“4

Die meisten modernen Nationalstaaten setzen sich aus verschiedenen Gruppen von Menschen oder Volksgruppen zusammen. Im Laufe der Geschichte hat sich die Bildung von Nationalstaaten in der Regel aus dem Zusammenschluss verschiedener Gruppen oder Staaten mit unterschiedlichem Charakter ergeben – Großbritannien, Frankreich und Deutschland sind sehr gute Beispiele. Außerdem gibt es nur wenige Länder, die durch natürliche Grenzen voneinander getrennt sind, und in der Geschichte haben sich die geografischen Grenzen durch Kriege, Massenmigrationen, Konflikte und politische Umwälzungen ständig verändert.

All dies macht einen primordialen oder ethnozentrischen Nationalismus ebenso irrational wie den marxistischen Globalismus. Der Ethno-Nationalismus verfällt ebenfalls dem Irrationalismus und der Sünde, bestimmte Volksgruppen (Blutlinien) zum Sündenbock für den Verfall der „weißen“ Kultur zu machen, wie z.B. Schwarze, Juden, Slawen usw., und ist als solcher ebenso sadistisch, wie die marxistisch kritischen Theoretiker. Nachdem wir uns mit dem zweiköpfigen Drachen des modernen Rassismus befasst und festgestellt haben, dass sowohl die kritische Rassentheorie als auch der Nationalismus falsch sind, wollen wir uns nun der biblischen Sicht der Ethnizität zuwenden.

Die biblische Sicht auf Rasse und Nation

Die Bibel und damit auch das Christentum widersprechen den modernen Konzepten von Rasse und Rassismus grundsätzlich. Alle heutigen Menschen stammen von Noahs Familie ab, die sich nach ihrer großen Ausbreitung beim Turmbau zu Babel in verschiedenen Sprachgruppen über die Erde verteilte (1Mo 11). Ich verstehe dies als wahre Geschichte und als Grundlage der christlichen Sichtweise von „Rasse“.

Keine Gruppe von Menschen, die aus dieser Familie stammt, hat eine durchweg „gute“ Geschichte, auf die sie stolz sein könnte. Menschen aus der ganzen Welt haben in der Vergangenheit böse Praktiken und in der Gegenwart viele Laster gehabt. Dazu gehören die alten Briten, die Sachsen, die Skandinavier, die germanischen Stämme, die Kariben in Westindien, die südamerikanischen Zivilisationen, die afrikanischen Völker, zahlreiche Clans auf den pazifischen Inseln und die amerikanischen Ureinwohner („First Nations“), die alle, bevor sie zum Christentum konvertierten oder unter dessen weitreichenden Einfluss gerieten, Menschenopfer, Kannibalismus oder beides praktizierten. Bei den amerikanischen Ureinwohnern dauerte dies bis weit ins achtzehnte Jahrhundert an, und in Afrika südlich der Sahara wird es bis heute fortgesetzt. Heute werden im Westen Abtreibung, Euthanasie und sogar Kindermord in großem Stil praktiziert, und die Welt ist mit der Geißel des Menschenhandels und der sexuellen Sklaverei konfrontiert. Die Allgegenwart der Sünde ist eine weitere grundlegende Tatsache des christlichen Denkens, die in der Geschichte hinreichend bewiesen wurde, und keine ethnische Gruppe ist von der gerechten Verurteilung für ihre Sünden ausgenommen (Röm. 3,9-18).

Die biblische Offenbarung gibt uns einen noch tieferen Einblick in diesen Sachverhalt, wenn wir den besonderen Charakter des Volkes beachten, das durch Gottes Berufung und Vorsatz gebildet wurde – das Volk Israel. Als Gott souverän beschloss, ein bestimmtes Volk und seine Grenzen zu errichten, tat er dies mit einer missiologischen Absicht (Mo 22,18), wie dies bei allen Völkern der Fall ist (Apg 17,26f). Diese Absicht war erlösend, mit dem Endziel, in Christus eine neue Menschheit aus allen Völkern der Erde als ein Reich von Priestern für Gott zu vereinen (Offb 5,10).

Bei dem Volk, dessen nationale Geschichte in der Heiligen Schrift als Warnung und Beispiel für alle berichtet wird (1Kor 10,11-13), gibt es mehrere entscheidende Dinge zu beachten.

Erstens: Abraham wurde von Gott aus einem heidnischen Volk herausgerufen, um der Vater Israels zu sein, in dem alle Völker der Welt gesegnet werden sollten. Bei Gott gibt es keine Bevorzugung (Röm. 2:11)! Abrahams Kultur oder Herkunft war nicht heilig – er wurde aus ihr herausgerufen.

Zweitens war die einzigartige nationale Identität Israels durch den Bund begründet (d. h. religiös), nicht ethnisch. Nicht durch die Abstammung von Abrahams Lenden wurde man Mitglied der Nation – schließlich hatte Abraham acht Söhne, und nur Isaak, geboren durch Sara, war ein Kind der Verheißung, durch das Jakob kommen und in Israel umbenannt werden würde.

Drittens wissen wir vom Apostel Paulus, dass die Erfüllung der Verheißung, dass der Same Abrahams die Völker segnen würde, in Christus Jesus verwirklicht wurde, der der „Same“ Abrahams ist (Einzahl: Gal 3,16). Christus ist der endgültige und wahre Priesterkönig, der Verwandte und Erlöser der Menschheit und der letzte Adam (1 Kor 15,45).

Viertens ist Paulus auch klar, dass der Nutzen und der Segen des jüdischen Erbes als Israelit nicht ethnisch, sondern religiös ist: „Was hat nun der Jude für einen Vorzug, oder was nützt die Beschneidung? Viel, in jeder Hinsicht! Denn vor allem sind ihnen die Aussprüche Gottes anvertraut worden.“ (Röm 3,1-2). Ebenso war die Minderstellung der Heiden nicht „rassisch“ oder biologisch, sondern religiös (Eph 2,11-14; 17-19).

Fünftens wird der religiöse, nicht „ethnische“ Charakter der Nation durch die Tatsache deutlich, dass Heiden wiederholt Mitglieder des Bundesvolkes Israel wurden und häufig eine bedeutende Rolle spielten bzw. einen großen Einfluss hatten. So heiratete Joseph eine Ägypterin namens Asenat, die die Mutter von zwei Stämmen Israels, Ephraim und Manasse, wurde (Gen 41,50-52). Mose heiratete Zippora, die aus einem frühen arabischen Stamm namens Midianiter stammte und der Überlieferung nach für ihre dunkle Hautfarbe bekannt war; sie war keine Hebräerin (obwohl sie von Abraham abstammte). Es wird auch gesagt, dass die Israeliten beim Auszug aus Ägypten nach den Plagen eine „gemischte Schar“ waren ( 2Mo 12,38), was darauf hindeutet, dass es zahlreiche Nicht-Hebräer gab, die mit Mose beim Exodus auszogen, weil sie Gott geglaubt und möglicherweise sogar das Bundeszeichen in Form von Blut über ihre Türschwellen gelegt hatten und sich so dem Bundesvolk anschlossen. Rahab ist vielleicht die berühmteste Nicht-Jüdin im Alten Testament – eine kanaanäische Prostituierte in Jericho, die Gott vertraut und Salmon aus dem Stamm Juda heiratet und so die Mutter von Boas wird, der eine andere Nicht-Jüdin heiratet, Ruth. Ihr Sohn Obed ist der Großvater von König David, und so gehört eine nichtjüdische Prostituierte zur direkten Abstammung von Christus. Wir können auch davon ausgehen, dass viele der Ehefrauen von König Salomo bekehrte Heidinnen waren.

Tatsache ist, dass trotz des allgemeinen Versagens Israels, das missionarische Volk zu sein, zu dem es berufen war (2Mo 19,6; 5Mo 4,4-8; Jes 49,6), die Möglichkeit für heidnische Nichtjuden bestand, sich zu bekehren und Mitglieder des Bundesvolkes zu werden, wie in Esther 8,17 beschrieben (siehe auch 3Mo 19,33-34).

Außerdem, und das ist das Entscheidende, war das Land, das ihnen zur Gründung ihrer Nation zugestanden wurde, kein absolutes ethnisches Recht, so als ob eine uralte Verbindung mit „Ort“ oder „Blut und Boden“ sie als Volk ausmachte. Sie waren Wanderer in der Wüste und Sklaven in Ägypten gewesen, und es wurde ihnen gesagt, dass, wenn sie sich gegen Gott auflehnten, das Land der Kanaaniter, das ihnen wegen des Götzendienstes und der Ungeheuerlichkeiten der Heiden gegeben wurde, sie genauso ausspucken würde wie die Völker, die vor ihnen dort gelebt hatten (3Mo 18,28). Als Folge ihres Ungehorsams gingen sie ins Exil und wurden schließlich enteignet.

Israel wurde nicht als Nation „rassisch“ definiert, sondern religiös. Was sie zu einer Nation machte, was ihre nationale Einheit inmitten einer beträchtlichen Vielfalt ausmachte, war, dass sie ein Volk des Glaubens waren, das von dem lebendigen Gott zu einem bestimmten Zweck berufen wurde – ein nationaler Bund machte sie zu einem Volk. Als sie dem Götzendienst verfielen, wurde das Reich geteilt, und sie wurden zu Feinden. Die Nation ist also nicht rassisch definiert und wird immer durch die Belange des Reiches Gottes zusätzlich relativiert. Das bedeutet, dass Nationen kein absolutes Recht haben, ihre Kultur fortzuführen oder ihr Land zu behalten. Alle derartigen Landzuweisungen in der Geschichte werden von Gott unter seiner souveränen Autorität erteilt oder aufgehoben – daher all die historischen Veränderungen im Laufe der Jahrhunderte (Dan 2:21).

Es ist Gottes eigener Ratschluss und ewiger Erlass, der bewirkt, dass Nationen und Zivilisationen aufsteigen, fallen und sogar ganz verschwinden. Denn die Nationen sind für Gott wie ein Tropfen in einem Eimer und werden in all ihrem Stolz und ihrer Einbildung als weniger als nichts und nichtig angesehen (Jes 40,17; Ps 22,28). Es kann also Patriotismus und Stolz auf den Glauben und die Leistungen unserer Nation geben, aber keine absolute nationalistische Loyalität gegenüber Land, Boden oder Volk. Wir können unserer Nation in ihren Übeln oder ihrer Rebellion gegen Gott ebenso wenig beistehen, wie einem abtrünnigen Familienmitglied gegen Christus im Namen der familiären Loyalität (Lk 14,26) oder einer ungläubigen und häretischen Gemeinde im Namen der konfessionellen Loyalität (2Kor 6,17; Offb 2,2-5).

Aufgrund von Gottes Gebot werden Familie, Gemeinde und Staat im Verhältnis zu Gottes Reich relativiert. Es hat Zeiten gegeben und wird solche geben, in denen die Gläubigen Familie, Volk und sogar eine abgefallene Nation zurücklassen müssen, um den lebendigen Gott anzubeten und Ihm zu dienen (Rut 1,15-17).

Wir können und müssen Gott für unsere Familie, unser Volk und unsere Nation anflehen und treu vor dem Herrn unter ihnen leben, zu ihrem Wohl und ihrem Segen, denn „Wohl dem Volk, dessen Gott der HERR ist …“ (Ps 33,12). Aber wir können uns nicht mit ihnen gegen den Herrn stellen. Damit soll nicht geleugnet werden, dass die verschiedenen Nationen eine Vielzahl unterschiedlicher kultureller Ausdrucksformen haben, die Teil eines vielfältigen Mosaiks von Gottes Wirken in der Geschichte sind. Letztlich werden alle Völker ihre kulturellen Schätze dem Herrn in Anbetung und Gottesdienst darbringen (Jes 60,11; Offb 21,24). Das Endziel der Einheit inmitten der Vielfalt der Völker kommt in der Offenbarung des Johannes gut zum Ausdruck:

„denn du bist geschlachtet worden und hast uns für Gott erkauft mit deinem Blut aus allen Stämmen und Sprachen und Völkern und Nationen, und hast uns zu Königen und Priestern gemacht für unseren Gott, und wir werden herrschen auf Erden“ (Offb 5,9-10)

Dies sollte vor allem in der Gemeinde zum Ausdruck kommen, wenn wir uns als Volk Gottes um Wort und Sakrament versammeln. Das stärkste Zeugnis gegen ethnische Vorurteile, Hass oder Feindseligkeit sollte unter dem multiethnischen Volk Gottes zu finden sein (Gal 3,28). Als sogar der Apostel Petrus selbst in eine tief verwurzelte soziale Trennung zwischen ethnischen Gruppen im Leben der Gemeinde (Juden und Heiden oder Beschnittene und Unbeschnittene) hineingezogen wurde, widersprach der Apostel Paulus ihm ins Angesicht, weil er sich heuchlerisch verhielt und versuchte, andere zu zwingen, sich einer nationalen Besonderheit anzupassen, d. h. als Jude zu leben. In der Tat betrachtete Paulus sein Verhalten als Abweichung von der Wahrheit des Evangeliums (Gal 2,14). Wie wir also unsere Beziehungen in der Gemeinde zu Menschen mit einem anderen ethnischen Hintergrund als dem unseren handhaben, ist von entscheidender Bedeutung für die Treue zum Evangelium.

So wichtig die Nationen in Gottes Ordnung auch sind, sie können nicht als absolut betrachtet werden, ohne dass man sie vergöttert. Sie werden immer relativiert in Bezug auf das einzige absolute Prinzip, das die Schrift zulässt – das Reich Gottes. Die Lehre des Apostels Paulus an die Gemeinde in Korinth ist eine scharfe Zurechtweisung an alle, die sich ihres Blutes und ihrer ethnischen Zugehörigkeit rühmen wollen: „Denn wer gibt dir den Vorzug? Und was besitzt du, das du nicht empfangen hast? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?“ (1Kor 4,7)

Über Dr. Joseph Boot
Rev. Dr. Joseph Boot (M.A., Ph.D.) ist ein christlicher Denker und Kulturapologet. Er hat das Ezra Institute for Contemporary Christianity gegründet und leitet es als Präsident. Außerdem unterrichtet er Kultur und Apologetik am Bryan College in Tennessee. Zuvor war er 14 Jahre lang Gründungspastor der Westminster Chapel in Toronto. Joseph ist mit Jenny verheiratet, sie haben drei erwachsene Kinder.

  1. Dies ist ein gekürzter Artikel von dem Vortrag, den Dr. Joseph Boot auf der Pro Rege Konferenz am 09.11.2024 in Frankfurt gehalten hat. ↩︎
  2. S.J. Gould, Ontogeny and Phylogeny, (Cambridge, Massachusetts: Belknap-Harvard Press, 1977), 127–128. ↩︎
  3. Die Buchstaben BIPOC stehen für: Black, Indigenous, People of Color (Schwarze, Indigene Menschen mit dunkler Hautfarbe) ↩︎
  4. Übersetzt aus: R.J. Rushdoony, An Informed Faith: The Position Papers of R.J. Rushdoony, Vol. II, Ecclesiology, Doctrine & Biblical Law (Vallecito, CA: Ross House Books, 2017), 595-596. ↩︎